
Nie zuvor hatte die europäische Autoindustrie so viele Veränderungen zu stemmen. Kai Grünitz, Markenvorstand für Technische Entwicklung bei Volkswagen Pkw, spricht mit der autorevue über die gewaltigen Herausforderungen für den zweitgrößten Autohersteller der Welt.
Eine schlechte Nachricht jagt die andere. Wie kann man mit so einer vielfältigen Krise umgehen?
Durch die geopolitischen Spannungen zwischen China und den USA haben sich zwei sehr unterschiedliche Technologie-Sphären entwickelt. Die Zeiten, in denen man Autos in Deutschland für die ganze Welt entwickelt hat, kommen zu einem Ende. Wir setzen deshalb auf den Aufbau regionaler Entwicklungskompetenzen. China ist dafür ein gutes Beispiel. In Hefei hat im vergangenen Jahr ein neues Entwicklungszentrum mit 3000 Entwicklern den Betrieb aufgenommen. Dort werden in enger Zusammenarbeit mit innovativen Zulieferern ausschließlich Elektro- und Hybrid-Fahrzeuge für den lokalen Markt entwickelt. Auch für die westliche Hemisphäre steht der Plan. Wir haben die Entwicklungszeiten neuer Fahrzeuge auf 36 Monate gebracht. 30 Prozent weniger als bisher. Die Serienversion des ID.2all oder des ID. EVERY1 werden die ersten Modelle sein, die auf Basis unserer neuen Prozesse entstehen. Auch mit der neuen Design-DNA und einer Software-Architektur liegen wir
voll im Plan.
Der enorme Druck und wahrscheinlich auch Erfolg der chinesischen Hersteller werden doch auch unsere Vorstellungen von einem Auto mitprägen ...
Die chinesischen Wettbewerber sind ja bereits auf dem Markt präsent, werden auch in Europa produzieren. Als die Japaner in den 1980ern kamen oder die Koreaner zwei Jahrzehnte später, hat dieser neue Wettbewerb die gesamte europäische Autoindustrie nach vorne gebracht.
Krisen in der Autoindustrie hat es so ungefähr alle 25 Jahre gegeben, bedingt durch den Ölpreis, durch neue Marktteilnehmer mit neuen Herstellungsmethoden oder auch wegen allgemeiner Marktsättigung. Was ist jetzt anders oder dramatischer?
In den siebziger und neunziger Jahren war die wirtschaftliche Herausforderung eher in Europa. Früher konnten wir etwa die Folgen der Ölkrise durch Erfolge in anderen Märkten ausgleichen. Zudem funktioniert das Konzept des Weltautos nicht mehr, wir entwickeln jetzt speziell für die einzelnen Regionen.
Zur Person
Kai Grünitz, einer der Keynote Speaker auf dem 46. Wiener Motorensymposium, lud im Vorfeld seines Vortrags zu einem Round-Table-Gespräch zur aktuellen Strategie von Volkswagen. Er ist Markenvorstand für Technische Entwicklung.
Was bedeutet diese Beschleunigung, diese Erhöhung der Geschwindigkeit für den Arbeitsmarkt, für die Produktion in Europa?
Wir müssen effizienter in unseren Prozessen werden. In China gibt es eine deutlich höhere Wochenarbeitszeit. Wollen wir die auch bei uns? Natürlich nicht. Also müssen wir schnellere Entscheidungen treffen und in schlankeren Prozessen arbeiten.
Was ist derzeit Stand der Dinge in der Entwicklungszeit?
Als wir Ende 2022 mit der Strategie „In China, für China“ angefangen haben, haben wir für die Entwicklung eines komplett neuen Autos fünf Jahre gebraucht. Inzwischen liegen wir unter drei Jahren. Die neue Compact Main Platform für die marktbestimmende Kompaktklasse des chinesischen Elektromobilitätsmarktes haben wir in China in kaum mehr als 30 Monaten entwickelt und um 40 Prozent kostengünstiger. Die chinesische Elektronik-Architektur CEA haben wir in unter 20 Monaten zur Marktreife gebracht.
Wird man die Produktion in Europa aufrechterhalten können? Kann die KI dabei helfen?
Die Produktion in Europa ist nicht per se zu teurer. Wir sehen gerade nach unseren Verhandlungen mit der Arbeitnehmervertretung, wie durch die vereinbarten Maßnahmen die Fabrikkosten sinken. Perspektivisch werden wir mit der SSP-Plattform (Anm: Scaleable Systems Platform) ab Ende des Jahrzehnts auch in der Produktion noch einmal ganz neue Wege gehen. Die ersten Autos auf dieser Plattform sind der elektrische T-Roc und der elektrische Golf, die neue Kompaktklasse. Wir fertigen die beiden Autos in Wolfsburg – und werden absolut konkurrenzfähig sein, auch was die Produktionskosten angeht.
Der Trend geht wohl in Richtung Megacasting. Macht das nicht Tesla ohnehin schon längst?
Tesla macht das, einige chinesische Hersteller auch. Aber da gibt es technische Unterschiede. Wie das die Wettbewerber machen, funktioniert das für ein oder zwei Automodelle. Wir aber haben Modelle von Volkswagen, Seat, Cupra, Škoda auf derselben Plattform. Wir müssen die Plattform so entwickeln, dass wir sie über die Marken im Konzern skalieren können. Megacasting verbietet das. Da gibt es noch viele Herausforderungen, das erfordert geschickte Konzeptarbeit und Konstruktion.
Gibt es nicht auch Probleme im Schadensfall, bei der Reparatur?
Das ist genau das, was ich mit geschickter Konstruktion meine. Wir kennen die Schadensfälle. Bei einem Frontalcrash ist es eben ein Unterschied, ob Sie sofort einen Totalschaden haben oder durch eine intelligente Konstruktion in den ersten Zentimetern des Längsträgers eine gezielte Verformung erlauben. Wenn ich diesen Teil austauschbar mache, durch geschickte Anlenkpunkte, habe ich den Vorteil der Gussbauweise und gleichzeitig eine Reparaturfähigkeit in dem am häufigsten beschädigten Bereich.
Wenn die Entwicklungszeiten immer kürzer werden, wie können wir dann sicher sein, dass wir künftig Autos noch in gewohnter Qualität bekommen?
Qualität ist nicht zwingend eine Frage der Entwicklungszeit. Was entscheidend ist: Die Elektronikplattform muss in einer Qualität kommen, die updatefähig ist, damit ich beim Austausch von Hardware nicht sofort die ganze Software neu schreiben muss.
Stichwort Software Defined Vehicle: Werden wir verschiedene Automarken im Wesentlichen bald nur mehr durch unterschiedliche Piepstöne bei Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit unterscheiden können?
Software Defined Vehicle kann so klingen, als ob die Software das Auto definiert. Bei uns ist es der Kunde, der mit seinen Bedürfnissen das Auto definiert – und die Software ermöglicht das. Mit der Serienversion des ID. EVERY1 werden wir 2027 in Europa unser erstes SDV (Anm: Software Defined Vehicle) bringen, in China bereits im kommenden Jahr.
Das Ziel muss sein, ein E-Auto für 20.000 Euro hinzustellen, mit dem wir auch Geld
verdienen können.

Wie lange werden Sie noch in Verbrenner investieren? Wie hat das Konsumverhalten Ihre Strategie verändert?
Der aktuelle Plan sieht vor, dass der Nachfolger des T-Roc der letzte komplett neu entwickelte Verbrenner in Europa ist. Er wird im August vorgestellt und kommt zum Jahresende in den Handel. Das Konsumverhalten ist kein Problem, wenn Sie sich die Verkaufszahlen der Elektroautos in diesem Jahr anschauen. Die spannende Frage ist eher, was der Gesetzgeber macht. Wann ist wirklich mit dem Verbrenner Schluss? Wir arbeiten mit Hochdruck an der „European Urban Car Family“, den bezahlbaren E-Autos ab 20.000 Euro, die ab dem kommenden Jahr starten. Wir arbeiten ebenfalls an der nächsten Generation der E-Autos auf der SSP-Plattform. Wir sind flexibel darauf eingestellt, falls sich wirtschaftliche oder gesetzgeberische Randbedingungen ändern. Eines ist aber klar: Die Zukunft gehört dem Elektroauto.
Der VW-Konzern war entschlossener in Richtung Elektroauto unterwegs als andere. War das auch in Entwicklung und Produktion so, oder hat man es nur besser kommuniziert?
Wir sind nicht umsonst die Nummer eins in Europa bei den batterieelek-trischen Autos. Das liegt schon auch daran, dass unsere MEB-Fahrzeuge viele Vorteile haben und technisch mittlerweile zu den besten Autos auf dem Markt gehören. Und weil wir früh auf eine reine E-Plattform gesetzt haben, haben wir früher als Wettbewerber Lerneffekte eingefahren. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass unsere Plattform viele Vorteile hat im Vergleich zu Mischplattformen der Wettbewerber.
Warum gibt es keine kleinen Autos mehr bei VW, seit der e-up! abgeschafft wurde?
Wir bringen 2027 die Serienversion des ID. EVERY1 auf den Markt. Manche sagen, das sei ziemlich spät. Warum dauert das? Das Ziel muss sein, ein E-Auto für 20.000 Euro hinzustellen, mit dem wir auch Geld verdienen können.
Viele verstehen trotzdem nicht, warum Sie den e-up! trotz bester Verkaufszahlen einfach eingestellt haben ...
Der erste e-up! hatte 100 km Reichweite, heute gelten 250 km für ein Stadtauto als Minimum. Dazu kommt, dass wir wegen gesetzlicher Rahmenbedingungen die Elektronik-Architektur hätten neu machen müssen, das hätte sich für das Auto einfach nicht gerechnet, der e-up! war bereits 13 Jahre alt, als wir ihn eingestellt haben.


Neues, kleines Elektroauto von VW: Der ID.2all, die Studie des künftigen ID.2, der ab nächstem Jahr für angeblich unter 25.000 Euro zu haben sein wird.
© Volkswagen AGWie können Sie bei dieser Hochbeschleunigung der Entwicklungs- und Produktionszeiten die Markenidentität von der technischen Seite her bewahren? Damit sich ein VW auch immer noch wie ein VW anfühlt?
Genau daran haben wir in den letzten Jahren hart gearbeitet. Wie sieht ein Volkswagen aus? Wie lässt er sich bedienen? Beginnend mit dem ID.2 haben wir unsere Modelle wieder so gestaltet, dass sie wie ein echter Volkswagen aussehen. Sie sind ein Stück weit konservativer als die erste Generation unserer E-Autos. Und vor allem sind sie zeitlos.
Aber Markenidentität ist doch mehr als nur Design.
Das stimmt. Ein Volkswagen in Europa soll in Zukunft immer Bügeltürgriffe haben und echte Knöpfe im Innenraum. Es geht um Stabilität und Zuverlässigkeit. Und auch die Wertigkeit im Innenraum gehört zur Markenidentität. Weiche Flächen, mit Stoff bespannt. Fast wie ein modernes Wohnzimmer. Ein Volkswagen muss auch fahren wie ein Volkswagen, also Spaß machen.
Die Anzahl der Steuergeräte in einem Auto ist geradezu explodiert. Alle arbeiten an einer neuen Architektur, sowohl bei Hardware als auch Software. Wie sieht das bei VW aus?
Das ist genau das, was eigentlich hinter dem Begriff Software Defined Vehicle steht, eine zonale Architektur. Wir haben einen zentralen Rechner mit dem Großteil der Funktionen, und dann gibt es noch zonale Rechner. Alles Weitere sind reine Aktoren, die Lenkung etwa hat anders als in den heutigen Architekturen kein Kow-how mehr. Der ID. EVERY1 ist in Europa das erste Modell mit der neuen Architektur. Das kommt auch in die Modelle der neuen Kompaktklasse, also den elektrischen T-Roc und den elektrischen Golf. Da habe ich dann eine Zone mehr als im kleineren ID. EVERY1. Die Software ist aber die gleiche.
Dieser Text erschien in der autorevue 7&8/2025.
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